Europa : DIALOG mit ...
Michael Bünker
„Europa ist für mich ein faszinierendes Zukunftsprojekt. Die derzeitige tiefe Krise zeigt, dass es grossen Einsatz auch von den Kirchen braucht, damit sich dieses Projekt gut weiter entwickelt. Welche gemeinsamen Werte können Orientierung geben?“ (M. Bünker)
Die Stimmung unter den Anwesenden im Haus der Europäischen Union ist gedämpft. Die Folgen der terroristischen Ereignisse in Paris werden uns noch lange in Erinnerung bleiben. Dr. Michael Bünker, Bischof der Evangelischen Kirchen A.B. in Österreich und Generalsekretär der Gemeinschaft Ev. Kirchen in Europa, eröffnet die Podiumsdiskussion der Dialog-Serie mit Benedikt Weingartner mit einer kurzen Andacht, um in Folge eine klare Position zu beziehen. Das Friedensprojekt Europa ist erschüttert, die Verwundbarkeit offensichtlich. Einmal mehr stehen die Werte unserer Gesellschaft am Prüfstand. Müssen wir unsere Prioritäten neu definieren?
Religionsfreiheit: Ein Menschenrecht
Die innerste Überzeugung des Menschen ist zentrales Thema. Es geht um Individuen, auch wenn kollektive Ansätze vertreten sind, sowie um eine repräsentative Symbolik, die Strukturen schafft und ein öffentliches Wirken voraussetzt. In diesem Punkt sind differenzierte nationale Positionen erkennbar, das Kopftuch jedenfalls ist hierzulande kein Problem, so Bünker. Während der Staat mit Friede und Ordnung wichtige Aufgaben hat, so fällt der Bereich der individuellen Überzeugung sicher nicht in dessen Zuständigkeitsbereich. Die Selbstorganisation der Zivilgesellschaft reicht aus, um ganz persönliche Überzeugungen zu leben, auch wenn der Mitgliederschwund der Kirchen nicht zu übersehen ist. Das religiöse Bewusstsein ist ausgeprägt. 70% der Bevölkerung bezeichnen sich selbst als religiös. Der institutionelle Aspekt hingegen fällt bescheiden aus: „Ich brauche die Kirche nicht, um meinen Glauben zu leben“ – so oder ähnlich könnte das Credo lauten. Von einem Versagen der Kirche zu sprechen wäre übertrieben, es geht vielmehr um eine individuelle Orientierung.
Versprechungen und Widersprüche
Nie wieder Krieg. Angesichts der Krisenherde in Nord-Afrika sowie im Osten sind Zweifel berechtigt. Wohlfahrtsversprechen stehen ebenfalls am Prüfstand. Diese sind angesichts der Lage kaum haltbar, wie überhaupt reichlich leere Phrasen auszumachen sind. Einmal mehr ist die Forderung nach einer grundlegenden Neuorientierung in der EU zu vernehmen, um soziale Absicherung und Wettbewerb in Einklang zu bringen, ohne dabei einzelne Aspekte ins Abseits zu manövrieren. Seitens der Kirche sind die Bedenken klar erkennbar, es braucht ein kollektives Nachdenken. Immerhin, die Gespräche zwischen Kirche und Regierungsspitze stehen, so Bünker, auf einer soliden Basis. Die eigentlichen Probleme sind auf nationalstaatlicher Ebene zu finden. Kontinentale und globale Probleme, seien es Klima, Finanzen oder Migration sind nur auf europäischer Ebene zu lösen, um den kleinsten gemeinsamen Nenner zu strapazieren.
Fluchtgeschichten haben Tradition
Weltweit sind 60 Millionen Menschen auf der Flucht. Bis 2017 landen 3 Millionen in Europa. Aus mathematischer Sicht eine Zahl, die durchwegs machbar sein sollte: „Das werden wir doch schaffen“, so der Ausspruch einer ziemlich bekannten Persönlichkeit aus dem Osten, die jedoch zusehends unter Druck gerät, Widerstand macht sich breit. Vielleicht sollte die Aufteilung etwas ausgewogener ausfallen. Ob politische oder militärische Lösung, Opferhilfe oder sonst was, das Problem muss an der Wurzel angegangen werden, es geht um Grundsatzfragen. Zur Erinnerung: Fluchtgeschichten sind uns aus der Bibel bekannt, die europäische Geschichte ist voll davon. Es gilt, traditionelle Thesen neu zu analysieren, um vergleichbare Bedauerlichkeiten bereits im Vorfeld zu eliminieren. Bünker spricht von einer Assymetrie der Kriege am europäischen Horizont, teils sehr undurchsichtige militärische Konflikte sollten zu denken geben. Krieg, so Bünker weiter, ist ein Versagen der Politik, jedoch nicht der Religion. Die Politik muss das Scheitern eingestehen, so dessen Forderung.
Kindersoldaten und viel Ratlosigkeit
Der latente Anstieg der Terroropfer lässt Böses befürchten. Dem undurchsichtigen Treiben der IS begegnet man mit Ratlosigkeit, von wegen Nachvollziehbarkeit. Die Religion als Mittel zur Radikalisierung zu positionieren kann es nicht sein, auch das Christentum hat Dreck am Stecken: Kreuzzüge, Hexenverbrennungen und andere wenig rühmliche Aktionen werfen einen langen Schatten auf die nicht immer erfreuliche Geschichte, noch einen 30-jährigen Krieg brauchen wir nicht. Reformen sind willkommen, so Bünker. Die Religion als Brandbeschleuniger für weltliche Konflikte zu deklarieren kann es nicht sein. Vielmehr stellt sich die Frage, ob nicht die Gesellschaft versagt hätte. Eine Generation ohne Perspektive ist Sprengstoff pur, Perspektiven sind die Grundlage für jegliche Integration. Fehlen diese, ist eine Radikalisierung der Umstände nur ein erster Schritt, es droht ein Flächenbrand. Entsprechend wichtig ist Bildung, gebt der Jugend eine reelle Chance.
Trennung Politik – Religion
Von der grundsätzlichen Gleichbehandlung aller Menschen abgesehen ist die Rechtsstaatlichkeit der Gerichte unumgänglich. Hier eine religiöse Komponente zu tolerieren wäre ein fataler Fehler, das ist von allen Beteiligten zu akzeptieren. Eine Assimilationsgesellschaft wäre der falsche Weg, Europa ist ein Freiheitsprojekt. Nur der mündige Mensch kann selbst entscheiden, es braucht gelebte Verantwortung. Europa bedeutet Vielfalt in sprachlicher, kultureller und religiöser Sicht. Wenn Toleranz zur Belastung wird, sollten die Alarmglocken schrillen. Die Protestanten wurden erst im Laufe der Zeit toleranter, die Demokratie kam auch erst nach `45. Luther war sicher kein Heiliger, er war ein Kind seiner Zeit und verlässlichen Quellen zufolge zudem ein ziemlich widerlicher Antisemit. Heute sieht sich die Kirche als Global Player, wenn auch andere Zeitabläufe im Spiel sind. Die weltliche Nachhaltigkeit gerät unter Beschuss, Asyl ist Menschenrecht und Flucht kein Verbrechen.
Neue Krise: Neue Chance?
Die Bedenken in Sachen Nachhaltigkeit jedenfalls scheinen berechtigt, da in vielen Belangen die Wende noch nicht erkennbar ist. Klimapolitik und Umwelt ist nur ein Beispiel, es gibt zu viele Schlagworte und noch mehr Konferenzen, während die Lösungen teils sehr gewagte und ziemlich theoretische Konstrukte sind. Bünker spricht erneut das brisante Thema Sicherheit an: Die Fehler der Geschichte dürfen sich nicht wiederholen, jetzt geht es um Ursachenforschung und neue Ansätze. Die aufkommenden Strömungen bilden eine Nagelprobe für ein Europa, das die Zukunft noch vor sich hat. Parallelströmungen verursachen Turbulenzen. Braucht es eine Revolution, um wach zu werden?
Text: Thomas Winkler Fotos: Europa : DIALOG / Karolina Doda
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