Europa : DIALOG mit ...
Alexandra Föderl-Schmid
„Europa ist für mich noch immer ein Wunder. Ich bin sieben Kilometer vom Eisernen Vorhang und sechs von der deutschen Grenze entfernt aufgewachsen. Wenn man die Entwicklungen in Europa in den vergangenen drei Jahrzehnten betrachtet, dann kann man – trotz aller Krisen – nur staunen.“ ( A. Föderl-Schmid )
Nur wenige Tage nach dem Briten-Referendum geht der Europa : Dialog in die nächste Runde. Alexandra Föderl – Schmid, Chefredakteurin und Co-Herausgeberin von „Der Standard“ und Benedikt Weingartner nehmen die Geschehnisse in der Europäischen Union unter die Lupe. Brexit ist das Schlagwort des Tages – seit dem Briten-Referendum ist mächtig was los in Europa, die Wogen gehen hoch. Wobei, gerade in bewegten Zeiten wäre es sehr wohl angebracht, sich gezielt die positiven Entwicklungen vor Augen zu führen und in angebrachter Dankbarkeit zu üben.
Bewegte Familiengeschichte
In der Familiengeschichte der sympathischen Medien-Lady sind leidgeprägte, schmerzliche Zeiten erkennbar. Es sollte bis `89 dauern, bis die Familie wieder zusammen finden durfte. Ihre Grossmutter musste fliehen, sie selbst hat 12 Jahre in Berlin gelebt und erinnert sich, welche Mühen erforderlich waren, eine Aufenthaltsgenehmigung in Deutschland zu bekommen. Das war Anfang der 90er. Heute sind Dinge wesentlich einfacher, doch Brexit könnte durchaus die Zeitmaschine aktivieren und einen Teil Europas in die Vergangenheit katapultieren. Mit Grenzbalken und allem, was dazugehört. Der 23. Juni 2016 hat Europas Geschichte geprägt: Als Glanzleistung wird das Cameron`sche Referendum sicher nicht durchgehen, das steht fest.
Kritik an heimischer Führungsriege
Viele Defizite verursachen Unbehagen. Das Wort Demokratiedefizit wird deutlich vernehmbar ausgesprochen, die Bürger wollen mitreden. Dialog ist angebracht, ebenso Bürgernähe. Die Trophäenjagd der Landesfürsten ist denkbar ungeeignet, Vertrauen zu schaffen, Nationalismen trüben das Bild. Von wegen Solidarität. Die Selbstdarstellung heimischer Akteure nervt. Föderl-Schmid bringt`s am Punkt. Und spricht uns aus dem Herzen. Klare Worte sind gefragt, das Ohnmachtsgefühl bei der Bevölkerung sollte ernsthaft zu denken geben. Populismus profitiert von aktuellen Tendenzen, die Kritik an Halbherzigkeiten ist nicht zu überhören. Die Sozialgesetzgebung braucht neue Ansätze, und: Es braucht, wenn`s nicht anders geht, anständige Sanktionen, um die teils recht widerspenstigen Nationen endlich auf Kurs zu bringen.
Zankapfel Flüchtlingspolitik
Sie kommen und halten die Hand auf. Länder mit hohen Sozialleistungen sind bevorzugte Destinationen vieler Flüchtlinge, Schlaraffenland Europa hat für alle was. Diese Meinung ist mittlerweile auch in heimischen Gefilden zu vernehmen, es braucht eine ausgleichende Komponente. Es kann nicht sein, dass einzelne Länder alles schlucken, andere putzen sich ab. Sozialmissbrauch ist ein brisantes Thema, die britische Rosinenernte spielt`s nicht mehr. Das müssen die schrulligen Insulaner verstehen, ob sie wollen oder nicht. Mitgliedstaaten sind angehalten, sich an die Spielregeln zu halten, allenfalls Dissonanzen vorprogrammiert sind. Die Briten, so Föderl-Schmid, wollen nur den Markt. Doch das wissen wir längst. Jetzt geht es darum, neue Ansätze zu finden, eine Neuaufstellung ist der einzige Ausweg aus dem Dilemma.
Wo sind die Pioniere?
Der Euro ist eine feine Sache, keine Frage. Doch es hat einst solide Argumentation und Geduld gebraucht, um die Bürger zu überzeugen. Es waren Pioniere, die für unser Europa auf die Strasse gingen. Und genau diese vermisst Föderl-Schmid. Die Identifizierung mit dem Projekt Europa ist heute vielfach nur sehr bedingt erkennbar, wenn überhaupt. Viele Punkte liegen unter der Bedeutungsschwelle. Wenn nur das EU-Parlament mehr Spielraum hätte und Initiativen setzen könnte, käme Dynamik ins Spiel, das statische Verhalten einzelner Akteure nervt. Dazu kommt, dass Europa besser rüber kommen müsste. Das ist Aufgabe der Medien. Dem gegenüber steht die Problematik der Leserzahlen, der Boulevard schreibt, was ankommt. Das färbt ab.
Reisefreiheit als Errungenschaft der Epoche!
Angesichts der aktuellen Umstände sollten wir die Vorteile der EU genauer betrachten. Reisefreiheit, grenzenloses Einkaufen ohne Zölle und eine solide Währung, die Geldwechsel erübrigt: Es wäre an der Zeit, die EU-Nörgler einzudämmen. Was wäre, wenn wir draussen wären? Mit dieser Frage müssen sich die Briten demnächst beschäftigen, der Finanzplatz London ist unter Druck gekommen. Sparpaket und Steuererhöhungen sind nur eine Frage der Zeit. Fish & Chips sind eine langweilige Angelegenheit, doch darum wollen wir uns jetzt nicht kümmern. Einmal mehr wird ein neues Narrativ eingefordert, die Briten haben uns gezeigt, was Protestwahlen bewirken. Das Spiel der Populisten ist eine hoch brisante Sache, die Macht der Medien nicht zu unterschätzen: Wenn der Boulevard trommelt, können wundersame Dinge geschehen, siehe Flüchtlingspolitik: Der Kurswechsel unserer Akteure hat für Irritation gesorgt, und hat den Ball an Brüssel weitergespielt. Dublin funktioniert nicht, wo sind die neuen Modelle?
Viele Fragen. Und kaum Antworten!
Die Schere zwischen Arm und Reich klafft bedrohlich auseinander, Jugendarbeitslosigkeit ist eine ganz zentrale Frage: Menschen brauchen Perspektiven, die Hoffnung stirbt zuletzt. Auch Flüchtlinge brauchen die Chance auf eine gesicherte Zukunft, Flucht darf kein Dauerzustand werden. Europa braucht Arbeit, Jobs bringen Geld und soziale Kontakte, Netzwerke entstehen. Es geht um Selbstwert, eine an sich ganz natürliche Sache. Viele Jobs bedeuten auch Steuern, die Steuertricks von Google, FB & Co. sorgen zusehends für Unmut. Selbstreflexion wäre angebracht, doch Konzerne denken in Zahlen. Kurzum: Es gibt viel zu tun in der EU. Der Bürger darf nicht vernachlässigt werden, der Souverän hat das Wort!
Text & Fotos: Thomas Winkler
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