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Jörg Winter

 

Europa : DIALOG mit ...

 

Jörg Winter


„Europa ist für mich ein ambitioniertes Projekt, das aber auch überfordert.“ (J. Winter)

 

Jörg Winter und Benedikt Weingartner in Europa : DIALOG

 

Das Spannungsfeld zwischen Europa und Türkei ist nicht zu übersehen. Der Türkei-Spezialist des ORF, Jörg Winter, erörtert die aktuelle Lage. Die Republik Türkei als Rechtsstaat in unserem Sinn zu bezeichnen, mag Verwunderung ernten. Das Land ist gespalten. 80 Millionen Einwohner, eine ziemlich bunte Opposition und eine kritische Öffentlichkeit ziehen einen tiefen politischen Graben, der Dramatik erkennen lässt. Hass ist erkennbar, und das macht die Sache richtig brisant. Und dann das Referendum. 18 Artikel am Prüfstand. Die Mehrheit zieht mit. Ohne Wenn und Aber. Aus Überzeugung?

 

 

Jörg Winter

 

… denn sie wissen nicht, was sie tun!

 

Von „Silent Generation“ sind wir meilenweit entfernt, James Dean lebt nicht mehr. Die Probleme liegen offen am Tisch. Unübersehbar. Mit der Wirtschaft geht`s bergab. 80% des Lagers haben Erdogan die Stimme gegeben, zumeist ohne zu wissen worum es geht. Blindes Vertrauen in jenen Mann, der das Land eigentlich aus der Krise führen sollte. Er wurde schliesslich demokratisch gewählt. Das muss auch Europa akzeptieren. Dieser Mann ist ein Geschenk Gottes, ist hinter jeder Ecke zu vernehmen. Wussten sie es wirklich nicht, dort, in der Türkei? Oder wollten sie einfach nur provozieren? Und Europa vielleicht aus der Reserve locken?

 

Jörg Winter zu Gast in Europa : DIALOG

 

Schweigen der Lämmer

 

Es ist noch nicht lange her, dass die religiöse und zugleich ziemlich konservative Mehrheit an der Politik nicht teilgenommen hat. Das war Sache einer kleinen, aber feinen Elite, die es sich gerichtet hat. Politisches Schweigen war angemessen, um Ungemach zu vermeiden. Auffallend auch die durchwegs starke Parteidisziplin, die wiederum verschiedene Dinge selbsterklärend macht. Istanbul war die nahezu uneingeschränkte Machtbasis. Der Widerstand fiel entsprechend leise aus. Der  Einfluss im Parlament war entsprechend schwach, die Opposition entsprechend zahnlos. Und auf eine Eskalation wollte man es so überhaupt nicht ankommen lassen.

 

Jörg Winter

 

Flüchtlinge: Ein Pakt, der bindet ….

 

Jörg Winter spricht von Erfolg: Der Flüchtlingsstrom aus der Türkei ist nahezu versiegt, es kommen nur wenige nach Europa. Die anatolische Gastfreundschaft ist gross, aber es gibt ein Ablaufdatum. Irgendwie haben sich die ungeladenen Gäste im Alltag verlaufen, sprich integriert, in welcher Form auch immer. Niemand will es so genau wissen, Dinge nehmen ihren Lauf.

 

Jörg Winter

 

Nationalismus deutlich ausgeprägt

 

Der Niedergang des osmanischen Reichs ist Ursache für den fast schon überzogenen Nationalismus, der das Türkentum prägt. Die AKP und Erdogan haben, so Winter, erstmals den Dialog mit den Kurden gesucht. Um ihn entgleisen zu lassen, das ist offensichtlich. Doch wie berechnend ist Erdogan? Überhaupt, er hat sich stark verändert. Erst einfacher Ministerpräsident, dann massives Lobbying in Brüssel. Seit er in der Türkei auf eigenen Beinen steht, braucht er Europa nicht mehr. Ist es Wahlkampfgetöse, oder legt es auf einen Bruch an? Er pokert hoch, Europa wird reagieren müssen. Wir brauchen Ehrlichkeit im Dialog, wirtschaftliche Aspekte sind unser Schuhlöffel, die Ausweitung der Zollunion hätte Vorteile für beide Seiten. Nur die Karotte hoch zu halten ist zu wenig. Die Wahrscheinlichkeit einer gänzlichen Ost-Ausrichtung Erdogans ist gering, doch auch dieser müsste seine Ideologie gründlich überdenken, in vielen Belangen.

 

Jörg Winter und Benedikt Weingartner

 

„Bashing“ denkbar schlecht

 

Die Kritik an der aktuellen Strategie fällt deutlich aus. Gespräche beendet, auf Eis, dann hoffnungslos. Die zahllosen Aktionen und Verfehlungen sind ebenso kontraproduktiv wie die Stimmung angekratzt, schmutzige Sandkastenrangeleien schaffen böses Blut und sind zudem denkbar ungeeignet, auch nur irgendwelche positiven Fortschritte zu machen. Aussagen über den Abbruch der Verhandlungen sind pures Gift für weitere Gespräche, so Winter. Das hilft weder Europa noch der Türkei, noch sonst irgendjemand. Integration sieht anders aus, Populismus hängt drohend im Raum, und das sollte die Elite auf beiden Seiten hellhörig machen.

 

Erklärungsbedarf gegeben!

 

Freilandhühner stimmen für Batteriehaltung. So oder ähnlich sind die Vorgänge am besten zu beschreiben. Das Referendum ist gelaufen. Die Community hat abgestimmt, fernab der Geschehnisse. Hier leben, dort wählen wirkt befremdlich, eine Erklärung wäre angebracht, alleine um ideologische Missverständnisse zu vermeiden. Denn irgendwie schimmert der Begriff der Integration in durchwegs schrägem Licht, was das betrifft. Eine öffentliche Diskussion, so Winter, könnte helfen. Die Bringschuld der türkischen Community ist klar erkennbar. Das Wort „Danke“ sollte auch mal fallen, um das weitere Verständnis für die Umstände zu beleben. Erdogan polarisiert. Auch fernab der Heimat? Was steckt dahinter? Wie kompatibel ist der türkische Traum für Europa?

 

Orientalische Pressefreiheit

 

Mann kommt gut aus miteinander. Ganz gesittet, ganz zivil. Es gibt Themen, die heikler sind als andere, Themen die sensibel sind. Oder eben ganz tabu. Informationen gibt`s zuhauf, daneben ein paar ungeschriebene Gesetze. Das Wort Zensur hängt im Raum. Der Mantel des Schweigens ist imposant. Das Druckmittel heisst „Presscard“, die Aufenthaltsgenehmigung ist daran gekoppelt, erklärt Winter. Pressefreiheit? Die rote Linie ist nicht zu übersehen, illegal in der Türkei ist mühsam. Europäische Verhältnisse sehen anders aus. Da besteht Aufholbedarf, sonst wird`s sicher nix mit Beitritt. Da wird verweigert!

 

Winter & Weingartner

 

Gefragter denn je: Europäisches Selbstbewusstsein

 

Der Tourismus in der Türkei ist eingebrochen, die Russen können nur bedingt kompensieren. Die Dynamik ist raus, es geht bergab. Investoren wären gefragt, doch fehlt`s an Planbarkeit. Es fehlt an Kapital und Wissen, die wenigen Kurzzeit-Investments sind zu wenig, Nachhaltigkeit wäre gefragt. Das alles sind unternehmerische Entscheidungen, und die verlangen ein geeignetes Framework. Kurzum: Der Einbruch ist dramatisch, Nachhaltigkeit sieht anders aus. Minus 70% hinterlassen Spuren. Das Stadtbild ist geprägt vom Zeitgeschehen. Wie geht es weiter?

Führungskräfte sind gefragt. Und Nachhaltigkeit. Sol heissen: Es kann nicht schaden, Selbstbewusstsein zu zeigen. Und mal Tacheles zu reden. Schengen. Die gemeinsame Währung. Was fehlt sind politische Köpfe, die begeistern können. Da wie dort.

 

Fotos: © Europa : DIALOG / Katharina Schiffl

Text: Thomas Winkler