Europa : DIALOG mit …
Tessa Szyszkowitz
„Europa ist für mich das wichtigste Friedensprojekt unserer Zeit. Mir ist es lieber, wenn die EU-Regierungen darüber verhandeln, welchen Krümmungsgrad Gurken haben sollen, als wenn sie ihre Heere gegeneinander hetzen.“ (T. Szyszkowitz)
Der Brexit verändert Europa. Der Rat der europäischen Union hat seine Zustimmung zum Start der Brexit Verhandlungen gegeben. Irgendwie scheinen die Akteure restlos überfordert. London-Korrespondentin Tessa Szyszkowitz kennt die Szenerie und die Gepflogenheiten rund um Downing Street. Die Briten schwimmen sicher nicht auf der Nudelsuppe, sondern sind ausgebuffte Verhandlungsgegner, wie die Extrawürste zeigen. Die Verflechtungen der Umstände und Gesetze machen das Vorhaben zu einer höchst komplexen Angelegenheit. Der Ausstieg wird eine Jahrhundertaufgabe, das steht fest. Dazu kommt, dass die Briten nicht wissen, was sie wirklich wollen. Raus. Gar nicht raus. Ein bisschen raus?
Selbstbeschädigung de Luxe
Immerhin, es gibt mittlerweile ein eigenes Ministerium für den Brexit, um irgendwo zu beginnen. Dazu wurden einige Leute zusammengefangen, aus den Ministerien, versteht sich. Die sich mit der Materie auskennen, die haben sich aus dem Staub gemacht. Die wollen die Suppe nicht auslöffeln. So die Expertin. Überhaupt, irgendwie wollen sich die Menschen nicht so recht daran gewöhnen, dass sie nicht länger im „Club“ sind. Es gibt eine leise Hoffnung auf einen Kurswechsel, nur: Das Europa von heute, das wollen sie nicht. Das entspricht nicht den Vorstellungen der mitunter recht schrulligen Briten. Vielleicht liegt es daran, dass die Insel nie ein Schlachtfeld war? Die Geschichte des Kontinents hingegen war reichlich turbulent … und zudem nicht unbedingt rühmlich. Sei`s drum.
Theresa May: Versprechen ohne Ende
Jeden Monat wird zumindest ein Versprechen gebrochen. May verliert zusehends an Beliebtheit, das Oberhaus torpediert alle Bemühungen. Entsprechend zusammen geschustert wirkt das Programm, der Wirbelwind mutiert zum Wendehals. Als die Vermögen alter Menschen für die Pflegekosten herhalten sollten, gab`s einen Aufruhr. Das war den Briten denn doch zu viel, der nächste Rückzieher war angesagt. Soviel zu den Vorgängen auf der Insel. Was den Brexit betrifft geht es um drei relevante Punkte: Wie geht es mit den EU-Bürgern weiter? Es geht ums Geld und dann um Nordirland. Nur: Der Inhalt der Überlegungen wird der Bevölkerung nicht kommuniziert. Das war auch bei oder vor dem Referendum nicht der Fall. Wozu auch? Über die Kosten redet überhaupt keiner, dann könnte alles hochgehen. Irgendwie war das Referendum ein kolossaler Fehler. Aber irgendwie steht es den Briten zu, aus Fehlern zu lernen.
Zerbricht die Insel?
Die Schotten wollen möglicherweise raus. Dann Nordirland. Autsch. All das wird nicht kommuniziert. Wenn`s passiert ist es zu spät, Theresa May spielt sichtlich mit dem Feuer. Realitätsverweigerung wäre eine mögliche Ursache. Die Labor Party ist in einem desolaten Zustand. Doch gerade jetzt wäre eine starke Opposition wichtig, um die Regierung vor sich her zu treiben! Dazu kommt, dass der Ausgang von Abstimmungen wie dem Referendum den schrulligen Briten nahezu heilig ist. Das Aufheben des Wählerwillens ist ein absolutes Tabu. Angesichts der Umstände in Europa jedenfalls könnte man es den Briten vielleicht verzeihen, sollten diese ihre Meinung ändern. Wir leben in einer Zeit des Wandels … und das verlangt enorme Anpassungsfähigkeit. Überhaupt, niemand scheint auch nur ansatzweise darüber nachgedacht zu haben, wie man den Brexit wirklich will. Erst jetzt, wo`s langsam ernst wird, beginnt es in den Köpfen der Briten vereinzelt zu dämmern. Nur: Solange „Sun“ und „Daily Mail“ gegen Brüssel Stimmung machen, hängt diffuser Nebel über den Köpfen der hilflosen Inselbewohner. Das kann heiter werden.
Pikante Kurzauftritte
Ein tolles Salär und markige Auftritte in Strassburg und Brüssel. Die Rede ist von Mr. Brexit, Nigel Farage. Er, der keinem Glas aus dem Wege geht, ist stets gut für neuen Ärger. In einer Radio-Show ist er Ventil für den Volkszorn, das Teufelchen findet einfach keine Ruhe. Schottland und Nordirland könnten den Austritt ins Stocken bringen. Überhaupt, auch Schottland könnte ein Referendum machen, dann wird`s überhaupt lustig, wo doch jetzt schon keiner ganz durchblickt. Überhaupt gibt sich Szyszkowitz sehr zurückhaltend, was den Brexit betrifft, vielleicht kommt alles anders? Die Entwicklung ist nicht vorhersehbar. Fast scheint es, als ob sich der Nebel über der Insel lichtet und der Blick der Briten klare Züge gewinnt. Die Lebenskosten steigen, sobald der Austritt Realität wird.
London: Plan A-B-C-D-E
Szenariodenken ist in. Die Banken bereiten den Umzug bereits vor, EU-Agenturen wandern ab. Frankfurt, Paris, Dublin – das könnten die neuen Plätze sein, wo Geld verschoben wird. Es sind hunderte Jobs, die wegfallen. Die Immobilienpreise fallen, was ja nicht schlecht ist, man will einfach nur gerüstet sein. Es bewegt sich was. Von Katastrophenszenario sind wir jedoch weiter entfernt. Kommt vielleicht ein Freihandelsabkommen zwischen Europa und den schrulligen Briten? Lange Übergangsfristen in die Zeit ausserhalb des Clubs sind zu erwarten, sonst kommt der Crash des Jahrhunderts. Die Kolonien werden Europa nicht kompensieren können, das geht sich nicht aus. Und die Migration so stark zu reduzieren wie erhofft geht auch nicht, wegen globaler Vernetzungen und Verträge. Theresa May wird wieder schwindeln müssen, die Tories spielen sicher nicht überall mit. Dazu kommt, dass Einwanderer aus der EU zumeist hochqualifiziert sind. Ärzte, Banker und Köche, hier hat die Insel wenig zu bieten, wenn`s ganz blöd hergeht, bleibt die Heizung kalt. Dafür ist das Militär schlagkräftig und einsatzbereit.
Britischer Weckruf an Brüssel
Macron hat eine EU-Diplomatin ins Verteidigungsministerium gesteckt. Clever. Wenn sich die EU jetzt noch auf die Hinterbeine stellt, kommt Bewegung in die Sache. Es ist sogar denkbar, dass wir den Briten zu Dank verpflichtet sind, dass die EU aufgewacht ist. Das Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten hat was auf sich, wie man sieht. Jeder wie er kann, das geht sich für die eine oder andere Reform aus. Flexibilität wird erkennbar. Immerhin: Die Briten hatten den besten Deal der Geschichte überhaupt, so die Expertin. Und den grössten Akt der Selbstvernichtung seit dem 2. Weltkrieg hingelegt. Einen Markt mit 500 Millionen Menschen zu verspielen ist … befremdlich. Ist das der Grund, weshalb die Briten auf einer Insel wohnen und auf der falschen Seite fahren? Irgendwie kommt Europa nicht an. Liegt es an den Medien und dem ewigen EU-Bashing? Ein paar Sachen haben uns die Briten voraus. Die Menschheit ist bunter. Die Kopftuchfrage wird mit Toleranz gelöst. Überhaupt, Szyszkowitz ist dankbar, dass sich Brüssel mit der Gurkenkrümmung beschäftigt und Aussengrenzen kein Thema sind.
Fotos: Europäische Kommission / Moni Fellner Text: Thomas Winkler |