Zivilkapitalismus: Wir können auch anders.
Der Industriekapitalismus hat ausgedient!
Bankenkrise, Kreditklemme und Protestbewegungen quer durch Europa. Der Industriekapitalismus scheint am Ende. So zumindest aus Sicht von Wolf Lotter. Nach der kreativen Revolution gegen eine selbst verschuldete Abhängigkeit könnte es zu einem Paradigmenwechsel kommen. Gelingt der Befreiungsschlag?
NEOS Lab Wirtschaftstalk. Unter dem Titel „Zivilkapitalismus. Wir können auch anders“ diskutieren Wolf Lotter (brand eins) und Josef Lentsch ( NEOS Lab) mögliche Zukunftsmodelle nach dem Industriekapitalismus. Die Zeit scheint reif für einen Wertewandel. Der Ruf nach einem starken Staat als Antwort auf die Krise versus individueller Freiheit und Selbstbestimmung just in einer Zeit, in der die meisten Bastionen der Fremdbestimmung gefallen sind ist nur eine Facette unserer Zeit. Lotter, gefragter Keynoter und Wirtschaftsjournalist, schreibt für eine neue Art des Kapitalismus in einer neuen Gesellschaft. Die Kernfrage lautet: Braucht ziviler Kapitalismus zivile Politik?
Politik befürchtet Machtverlust
Die Krise ist nicht zu übersehen. Die Politik behauptet, mit all dem nichts zu tun zu haben und uns retten zu wollen. Die Autonomie der Bürger könnte in einem Machtverlust für die Politik enden. Emanzipation ja, in allen Bereichen – nur nicht in der Politik. So die doch ziemlich provokanten Theorien des renommierten Buchautors Lotter. Das Konzept der Abhängigkeit trifft speziell auf Menschen zu, die in einer wohl behüteten Wohlstandsdemokratie aufgewachsen sind. Die Zeit braucht mündige Bürger, entscheidungsscheu und arbeitsscheu, so die wenig schmeichelhaften Worte, liegen auf einer Ebene. Demzufolge ist Entscheidungsstärke eine Bürgerpflicht, es geht um den Erhalt der abendländischen Macht. Dabei ist es Aufgabe der Politik, Menschen zu organisieren – und für eigene Zwecke einzuspannen. Applaus aus dem Publikum, es geht um neue Werte für viele, eine wenige wollen hingegen nur die ihnen anvertraute Macht erhalten. In anderen Worten: Mit Politverdrossenheit ist nichts zu holen, Lotter empfiehlt eine kultivierte, kontinuierliche Verliebtheit in die Politik. Nur wer wählt, bestimmt.
Sicherheitsdenken aus Tradition
Das lange Zeit dominierende Sicherheitsdenken birgt einiges an Bedrohungspotenzial in sich. Es beginnt im unmittelbaren Umfeld, welches nur darauf wartet, entsprechend umgestaltet zu werden. Freelancertum als logische Konsequenz auf latente Bevormundung erfordert die Konzentration auf gelebte Unabhängigkeit, andernfalls bleibt gerade mal ein Überleben in einer zudem schrumpfenden unteren Mittelklasse, Otto liebt Schnitzel. Selbstverwirklichung als höchste Stufe menschlicher Entwicklung bietet die Chance, Talente und Visionen in den Mittelpunkt des Handels zu stellen, der Weg von der Industrie in die Wissensgesellschaft fordert ihren Tribut – Initiative und Eigenverantwortung gewinnen an Bedeutung, die Scheinheiligkeit der Politik offeriert eine Sicherheit, die es nicht gibt. War man früher auf einen Dienstgeber fixiert, zählt heute Multitasking, das industrielle und sehr konventionelle Arbeitsmodell der Industrie hat ausgedient. Alter Gesellschaftsvertrag und intellektuelles Biedermeier stossen an ihre Grenzen. Universelles Denken als Ergebnis kollektiv-genormter Qualifikation steht vielfach in Kontrast zu Flexibilität, Lotter schildert das Bild der unmündigen Gesellschaft mit wohl gewählten Worten, erneut tosender Applaus – das Publikum ist sichtlich begeistert.
Mit Subventionen in die Abhängigkeit
Die Almosenmentalität der 68er kriegt kräftig einen ab – eine Generation, die ohne Förderungen, Zuwendungen, Transferleistungen und Subventionen nichts auf die Reihe kriegt, gerät unter Druck. Die selbstverschuldete ökonomische Abhängigkeit betrifft eine ganze Generation, die Gemütlichkeitsambitionen der politisch intellektuellen Oberschicht bedrohen die Evolution. Kein Wort über die doch ziemlich restriktive Kreditvergabe, mit der kleinere Unternehmen zu kämpfen haben. Der Geldadel kann sich`s richten, Steuern werden dort geholt, wo es einfach ist: In einer politisch durchwegs desinteressierten Mittelklasse, deren Rechte und Möglichkeiten gezielt dezimiert werden. Der Europäer liebt Abhängigkeit. Gäbe es die Krise nicht, die Politik hätte sie erfinden müssen. Lotter provoziert, es geht um Selbstbestimmung und Zivilcourage. Maximaler Minimalismus ist am Horizont in Sicht – für uns gibt`s keine Rente. Was bleibt, ist die Grundsicherung. Revolution ist kein Gesellschaftsspiel, sondern die Auseinandersetzung mit dem eigenen Schicksal. Die Delegation der Verantwortlichkeiten bedeutet Stillstand, was bleibt ist stiller Rückzug in die Intimität gelebter Politikverdrossenheit. Oder lieber doch Revolte?
Text & Fotos: © Thomas Winkler / Juni 2014 |